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Interview mit Dr. Frits Bernard, Emanzipator der ersten StundeMehr als ein halbes Jahrhundert Kampf für die Liebe zu den JungsMarthijn Uittenbogaard, in: KOINOS # 48, 2005-4
Bernard: ‘Psychologie war in jener Zeit, 1939, ein neues Studienfach. Ich studierte in einer sehr schwierigen Zeit. Am 10. Mai begann mit dem Überfall der Deutschen für die Niederlande der Zweite Weltkrieg. Während der Besatzung unseres Landes waren die Studenten bei den Nazis nicht gerade beliebt. Universitäten mussten am Ende ihre Pforten schließen und es kam zu Razzien und Deportationen. Negative Gefühle gegenüber den Juden wurden damals von der Nazipropaganda stark geschürt. Aber Homosexuelle blieben davon auch nicht verschont.' 'Wenige Tage nach der Kapitulation, etwa Mitte Mai 1940, rief ich den Juristen Schorer [einen der ersten niederländischen Schwulen-Emanzipatoren, Red.] aus einer Telefonzelle an. Er erzählte mir, dass die Bibliothek des Wissenschaftlichen Humanitären Komitees, dessen Vorsitzender er war, soeben vorsorglich vernichtet worden sei. Es herrschte also von Anfang an eine spürbare Unruhe und es wurden wenn möglich Vorkehrungen getroffen. Während der Kriegsjahre waren homosexuelle Kontakte strafbar, also auch über 21 Jahre. Der Besatzer hatte dieses neue Gesetz erlassen, das dann nach dem Krieg nicht ohne einigen Widerstand wieder abgeschafft wurde.’ Zu Bernards Kommilitonen zählte Jan Hanlo, einer der wichtigsten niederländischen Dichter und bekannt für seine ausgesprochene Liebe zu den Jungen. Bernard: ‘Eines Tages, die Vorlesung hatte noch nicht angefangen, kam ein älterer Student herein, den keiner von uns kannte. Etwa zehr Jahre älter als wir, ein wenig exzentrisch gekleidet. Eine auffällige Person mit rotem Haar und einem roten Bart. Das war Jan Hanlo. Er wurde wegen seines roten Bartes gleich Barbarossa genannt. Der Kontakt zwischen uns kam bald zustande. Er schien mir ein hochinteressanter Mann, ein wenig außergewöhnlich, aber sehr freundlich. Manchmal ging er an einem Spazierstock, wie es früher für Studenten aus der Universitätsstadt Leiden gebräuchlich war. Jan Hanlo hat nur ganz kurz Psychologie studiert.' 'Eines Tages war ich bei ihm auf seinem Zimmer. Ein wenig unsicher murmelte er: "Ich habe einige Gedichte gemacht, soll ich die mal vorlesen?" Seine Zuneigung zu den Jungen kam darin zum Ausdruck. Er fragte: "Geht das denn?" "Jan, die musst du unbedingt veröffentlichen." Das platzte mir einfach so heraus. Ein historischer Augenblick. Sein längstes und bestes Gedicht "Wir kommen auf die Welt" hat er mir gewidmet. Das habe ich übrigens erst später entdeckt.’ Haben Sie durch diese Gedichte herausbekommen, dass er auf Jungen flog?‘Nein, das wusste ich bereits. Wir hatten schon viele Gespräche geführt und er war mir gegenüber offen. Die Zuneigung zu jungen Jungen ist für ihn ein sehr großes Problem gewesen. Psychologisch interessant, weil er jemand war, der seine Sexualität in keiner Weise akzeptierte. Er ging auch oft zu einem Beichtvater, das war eine Art Zwang, Er sagte: "Ich fühle mich sehr erleichtert, denn ich war bei einem Beichtvater, der gesagt hat, dass bis zur Gürtellinie alles erlaubt sei, aber darunter nicht." Das war für ihn schon allerhand. Aber nach einer Woche sagte er: "Ich gehe trotzdem zu einem anderen Beichtvater, denn was mir der vorige geraten hat, gefällt mir nicht." Er bekam zu hören, was er eigentlich hören wollte: Nichts ist erlaubt, es ist verboten, es ist eine Sünde. Vor allem Letzteres war ausschlaggebend.' 'Hanlo war dann sehr heiter, fühlte sich erleichtert. Das dauerte aber nicht lange, denn eines Tages wurde er in eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Anschließend kam er in eine katholische Anstalt nach Heiloo. Dort hat er längere Zeit verbracht, leidend an Halluzinationen und schlimmen Zwangsvorstellungen jeder Art. In Heiloo war man natürlich sehr gegen alles, was nicht die Ehe betraf. Man sollte also anständig verheiratet sein und keinen Ehebruch begehen. Und man durfte selbstverständlich nicht homosexuell sein. Seinem Biografen Hans Renders zufolge ist Hanlo dort kastriert worden. Noch bis 1969 wurden in den Niederlanden Kastrationen vorgenommen, an Homosexuellen und Exhibitionisten zum Beispiel. Heiloo war der Ort, wo das geschah, und erst 1970 hörte es auf. Jan Hanlo hat also gerade noch die Zeit erlebt, in der das alles noch passierte.’ Nach dem Krieg engagierte sich Bernard für die Schwulenbewegung, genauer für die COC [die niederländische Vereinigung zur Integration von Homosexualität, Red.]. Bernard: ‘Die COC stand damals nicht im Telefonbuch, und auch nicht auf den Listen der Fürsorgeorganisationen. So war das zu der Zeit. Ich sah in Paris in der Zeitschrift Futur eine kleine Anzeige: COC, Telefonnummer, Amsterdam, sonst nichts. Wieder in den Niederlanden rief ich an und bekam den hell begeisterten Vorsitzenden Bob Angelo [Pseudonym von Niek Engelschman, Red.] am Apparat, der geradewegs sagte: "Komm doch hierher, dann können wir uns unterhalten." So ist dieser Kontakt zustande gekommen. Er fragte gleich: "Möchtest du nicht etwas für Vriendschap [das Monatsheft der COC zu der Zeit, Red.] schreiben?" Kurz darauf trat ich der Redaktion bei. Unter meinem Schriftstellernamen Victor Servatius schrieb ich zum Beispiel "Ephebophilie und Wissenschaft I und II" sowie einen ausführlichen Forschungsbericht in zehn Folgen mit vielen statistischen Daten über eine Studie unter Homosexuellen. Die größte Untersuchung bislang.’ Edward Brongersma saß inzwischen auch in der Redaktion. Bernard: ‘Artikel wie "Ein Zentrum für Pädophile" und "Der Sinn der Pädophilie" waren die ersten Versuche, die Pädophilie als Gesprächsthema in die COC einzuführen. Man war über meinen Einsatz sehr begeistert, bis der Widerstand kam. Das muss etwa 1962 gewesen sein. Die Redaktionssitzungen unter Vorsitz von Bob Angelo fanden meistens im COC-Büro am Damrak statt. Während der Besprechungen herrschte immer eine gute und entspannte Atmosphäre.' 'Eines Tages saßen Edward und ich da und warteten auf die übrigen Redaktionsmitglieder. Aber es kam niemand. Hatten wir uns geirrt? Laut Impressum des nächstfolgenden Hefts waren wir keine Redaktionsmitglieder mehr, sondern Mitglieder des "Beratungsgremiums der Redaktion". Eine Beförderung? Auf den ersten Blick schon, aber in Wahrheit verhielt es sich anders: Man hatte uns auf das Abstellgleis geschoben. Es hatte sich eine Gegenströmung gegen uns gebildet. Es wurde nie offen gesagt, aber das Thema Pädophilie machte Schwierigkeiten. Viele Schwule finden es bedrohlich. Zum Selbstschutz will man sich von den Pädophilen abgrenzen.’ Bernard hat Edward Brongersma als einen sehr angenehmen Menschen kennen gelernt, zuverlässig und freundlich. Bernard: ‘Wir hatten uns miteinander befreundet und haben vieles zusammen gemacht. Wir tauschten Nachrichten und Daten aus und blieben so mit den Entwicklungen auf dem Laufenden. Er war sehr belesen. Eines Tages – das war Mitte der siebziger Jahre, die Emanzipation war in vollem Gange – erhielt ich unerwartet einen langen Brief von ihm. Er wollte, dass ich mein Buch Pädophilie aus dem Handel zog [siehe Fußnote über ‘Controverse’, Red.]. Das Warum ist mit nie klar geworden. Die Beziehung zwischen uns ist leider nie wieder so geworden, wie sie früher einmal war.’ War sein Tod 1998 ein Schock für Sie?‘Jeder in seiner Umgebung hat es lange kommen sehen. Im Grunde hatte er sich bereits seit seinem ersten Selbstmordversuch 1991 vom Leben verabschiedet. Sein Sehvermögen ließ stark nach. Bei seinem letzten Fernsehauftritt [in einer Magazinsendung über die Hetze gegen Pädophilie, Red.] war er geistig noch sehr klar. Ein tapferer alter Mann und eine Kämpfernatur.’ Zu einem ‘Zentrum für Pädophile’ kam es übrigens nicht; nicht innerhalb der COC, aber auch sonst wo nicht. Bernard: ‘Dafür war die Zeit noch nicht reif. Ich ging zu schnell. Ende 1969, Anfang 1970, vor genau 35 Jahren, setzten sich innerhalb der Niederländischen Vereinigung für Sexuelle Reform (NVSH) ein paar wenige Leute zusammen und begannen vorsichtig das Thema Pädophilie zu diskutieren. Wir suchten nach praktischen Lösungen, um die mit diesem Thema verbundenen Probleme anzugehen. Wir entschlossen uns, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Das erschien bereits 1972 unter dem Titel Sex mit Kindern. Außer Edward Brongersma und mir haben Wijnand Sengers, Peter van Eeten und Ids Haagsma daran mitgeschrieben. Das Buch wurde sehr beifällig aufgenommen. Es gab der gerade in Gang gesetzten Emanzipation einen Impuls.’ Bernard schrieb weiter unter anderem Costa Brava und Vervolgde minderheid. ‘Die Geschichte von Costa Brava ist Fantasie. Der Plot ist natürlich auch erfunden. Das Buch hat durchaus einige Aufregung verursacht, vor allem in Frankreich: "Dieser Autor ist noch schlimmer als der Teufel, denn er lässt einen Jungen am Ende sagen: Wäre bloß früher etwas mehr passiert." Über die Aufregung habe ich mich sehr gefreut. Wenn man schreibt, will man ja etwas treffen, es war also offensichtlich voll ins Schwarze getroffen. Costa Brava musste auf Anordnung der Polizei von den Salons de l'érotisme, den großen jährlichen Sexmessen in Paris, entfernt werden.’ Anfang der siebziger Jahre war in Rotterdam die erste ‘Arbeitsgruppe Pädophilie’ innerhalb der NVSH gebildet worden. Bernard: ‘Später kam noch eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen hinzu. Anschließend wurden in Breda fünf internationale Treffen veranstaltet, die mir ermöglichten, Untersuchungen anzustellen. Diese Kongresse haben auch die pädophile Emanzipation im Ausland entscheidend beeinflusst. Später erschienen in amerikanischen Zeitungen Meldungen, dass es in Amsterdam Märkte gebe, wo man Kinder kaufen könne. Die Presse in den USA kritisierte die Entwicklungen in den Niederlanden. Von da an ging es bergab.’ 1987 hat Bernard noch in der Donahue Talk Show mitgewirkt, die eine Sendung über Pädophilie machen wollte. Die North American Man Boy Love Association (NAMBLA) sollte darin im Mittelpunkt stehen. Bernard: ‘Unmittelbar vor der Übertragung gab es Probleme. NAMBLA-Leiter wollten nicht in der ersten Reihe sitzen, sondern über den Saal zerstreut. Als Phil Donahue damit nicht einverstanden war, weigerten sich die Leute von NAMBLA mitzumachen. Es hing jetzt von mir ab. Genau in dem Augenblick, wo Donahue das Mikrofon in die Hand nahm, ging ich aufs Podium, in Begleitung eines jungen Mannes, der als "Opfer" mitwirken sollte.' 'Fragen und Antworten folgten einander in raschem Tempo. Der junge Mann verstand es gut, seine Geschichte vorzubringen, aber er löste natürlich auch Kritik aus: "Du wirst später schon noch spüren, was für nachteilige Folgen dein Verhältnis mit einem Erwachsenen haben wird." Mir wurde reichlich Gelegenheit gegeben, meine Ansicht darzulegen. Ich hatte es nicht einfach, den Unterschied zwischen Pädophilie und Kindesmissbrauch klarzumachen, das war zu erwarten. Aber gemeinsam haben wir die Sendung über die Runden gebracht. Am Ende zeigte sich NAMBLA sehr glücklich über die Sendung. Das Videoband ist bis heute noch hunderte Male bei allen möglichen Zusammenkünften gezeigt worden.’ Sind Sie der Ansicht, dass die Diskriminierung von Pädophilen oft übergangen wird, wenn über Diskriminierung gesprochen wird?‘Das Thema Diskriminierung und Pädophilie steht momentan nicht zur Debatte. Die Meinungen haben sich gebildet: Es ist eine Störung, die behandelt werden muss. Pädophile sind gefährliche Menschen, die es eigentlich nicht geben sollte. Sie stellen eine große Gefährdung dar. Meint man. Ich habe immer gedacht, dass die Hexenjagd nicht noch schlimmer werden könne, aber jedes Mal zeigt sich erneut, dass es sehr wohl möglich ist. Aber diese Hexenjagd wird in der Bevölkerung nicht als Verfolgung gesehen, im Gegenteil. Ich fürchte, dass diese negative Einstellung so bald nicht der Vergangenheit angehören wird. Aber: Nichts währt ewig. Dass die Haltung gegenüber Pädophilen auch eine andere sein kann, zeigt sich, wenn man die Geschichte erforscht.’ Welche Bedeutung kommt der Wissenschaft in dieser Frage zu?‘Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung sind für die Gesellschaft akzeptabel, wenn sie in den Rahmen des Gedankenguts der Zeit passen. Wir glauben immer, dass man diese Frage mit Hilfe der Wissenschaft lösen kann. Letztendlich ist es aber keine wissenschaftliche Frage, sondern eine Frage der Ethik und der Moral. Das hat sich erst neulich noch an der ausführlichen amerikanischen Studie von Rind, Bauserman und Tromovitch gezeigt, aus der hervorging, dass erwünschte pädophile Kontakte im Allgemeinen keine schädlichen Folgen haben' [siehe auch frühere Veröffentlichungen hierzu in Koinos 17, 20, 21 und 32, Red.].
'Die Untersuchung wurde von Wissenschaftlern als einwandfrei durchgeführt bewertet. Aber für die Gesellschaft geht es im Grunde nicht um die Frage, ob etwas schädlich oder unschädlich ist, sondern ob es moralisch akzeptabel ist. Rüdiger Lautmann gelangte in seinem Buch Die Lust am Kind bezüglich der Schädlichkeit zu denselben Schlussfolgerungen wie seine amerikanischen Forschungskollegen. Als er aber seine Untersuchung ausdehnen wollte, wurde er zurückgepfiffen. Das lag, wie ich glaube, daran, dass auch bei Lautmann die Forschungsergebnisse mit den landläufigen Anschauungen dieser Zeit nicht übereinstimmen.’ Sollte die Altersgrenze für sexuelle Kontakte bei null Jahren liegen?‘Nein, aber zwölf Jahre wäre eine Möglichkeit. In den siebziger Jahren kam innerhalb der NVSH die Ansicht auf, dass die Moralgesetzgebung eigentlich überflüssig sei, denn die normale Gesetzgebung reiche dazu völlig aus. Dann kann man wirklich den Fall an sich betrachten. Dann braucht man sich nicht um eine Altersgrenze zu kümmern, ob es darüber oder darunter ist. Eine solche individuelle Vorgehensweise ist meiner Meinung nach die einzig richtige. Jeder Fall liegt anders, wie auch jede Situation verschieden ist.’ Hat die Emanzipationsbewegung der Pädophilen Fehler gemacht?‘Ich habe mich manchmal gefragt. ob wir damals nicht zu viel Druck ausgeübt haben. Haben wir die Sache vielleicht überstürzt? Auch haben wir damals in mehreren Veröffentlichungen das Ganze vielleicht als zu schön dargestellt, und das hat auch gleich negative Reaktionen ausgelöst. Die belgische Wochenzeitschrift Humo schrieb einmal: "Die Pädophilen haben damals fast ihr Ziel erreicht." Es ist durchaus möglich, dass das stimmt.’ Wird die Liebe zu den Jungen jemals akzeptiert werden?‘Ob sie jemals ganz akzeptiert werden wird, ist fraglich. Aber geduldet, vielleicht ja. Und vielleicht gibt es in Zukunft ja wieder neue Chancen, und genauso wie bei der Wende um 1969/1970 muss man die dann nutzen. Die Erfahrungen von einst können dann wieder eine Rolle spielen. Die sind alle in Büchern und Zeitschriften festgehalten. Man braucht also nicht wieder ganz von vorne anzufangen.’ |
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